Studieren mit ADHS hat seine Herausforderungen. Die Konzentration fällt auf Dauer schwer, langweilige Aufgaben werden bis zur Deadline ignoriert und die Selbstorganisation kann eine wahre Herausforderung sein. Auf der anderen Seite steht dir eine ganze Bandbreite an positiven Eigenschaften zur Verfßgung: hohe Kreativität, schier grenzenlose Begeisterungsfähigkeit, Empathie und ein Hyperfokus, der dich in eine wahre Lernmaschine verwandeln kann. Dafßr musst du sowohl deine vermeintlichen Schwächen als auch Stärken kennen, akzeptieren und lernen, damit umzugehen.
In unserer Reihe „Studieren mit ADHS“ erklären wir dir die Funktionsweise deiner Informationsverarbeitung, geben Ratschläge zum erfolgreichen Hacken deines Gehirns, räumen mit Vorurteilen auf, klären, ob und wann sich ein „Outing“ lohnt und zählen die wichtigsten Anlaufstellen auf.
ADHS – eine StĂśrung?
ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/HyperaktivitätsstĂśrung) ist eine vielfältige und komplexe genetische Kondition, welche erst langsam in den Fokus der Forschung rĂźckt. Viele Jahrzehnte galten Betroffene schlicht als faul, verpeilt, unmotiviert, unaufmerksam oder Ăźberempfindlich. Man solle sich âzusammenreiĂenâ und âeinfach mal machenâ. Dass es fĂźr dieses atypische Verhalten einen angeborenen Grund gibt, ist den meisten auch heute noch nicht bekannt.
Nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft haben rund 5 % aller Menschen ADHS. Statistisch gesehen sitzt in jedem Seminarraum mit groĂer Wahrscheinlichkeit ein Studi mit diesem Phänomen. In einem der ĂźberfĂźllten Vorlesungssäle sowieso. đ
Zu oft nimmt die Allgemeinheit ADHS – wenn Ăźberhaupt – als âStĂśrungâ oder âDefizitâ wahr. Selbst Betroffene eignen sich diese Begriffe an – mit all den negativen Folgen fĂźr das SelbstwertgefĂźhl. Dabei kann eine ADHS-Diagnose wahre Wunder vollbringen, gerade bei Erwachsenen. PlĂśtzlich bekommt man eine Anleitung fĂźr das eigene Gehirn und kann viele Probleme einordnen, gegen die man sein Leben lang erfolglos gekämpft hat. Eine groĂe Erleichterung!
Einige Forscher*innen sprechen mittlerweile von UMIF: Unusual Management of Information and Functions. Das trifft den Kern der Sache viel besser, denn bei der Kondition geht es um ein von der Norm abweichendes Gehirn, dass anders auf Reize reagiert und Information recht eigenwillig verarbeitet. Zur besseren Ăbersicht verwenden wir im weiteren Verlauf des Artikels den Sammelbegriff ADHS, der auch ADS mit einschlieĂt.
ADHS ist eine Normvariante des Menschseins, ähnlich wie Mann- und Frausein. Es ist keine Krankheit!
Ganz wichtig: DU BIST NICHT DEIN ADHS! Welchen Impact die Kondition auf dein Leben hat, setzt sich aus ganz vielen Faktoren wie deiner PersĂśnlichkeit und deinem Umfeld zusammen.
Dein Umfeld ist wichtig – sehr wichtig
Dass dein soziales Umfeld eine groĂe Rolle fĂźr deine Entwicklung als Mensch und dein tägliches Wohlbefinden spielt, weiĂt du. FĂźr jemanden mit ADHS ist sie aber noch wichtiger. Wenn du mal wieder nicht durch deinen âGedankennebelâ blicken kannst, der durch eine Ăberforderung mit zu vielen gleichzeitigen Informationen entsteht, sind deine Mitmenschen und Strukturen sprichwĂśrtlich LeuchttĂźrme, an denen du dich orientierst.
Das kann im Studium dazu fßhren, dass dein Erfolg deutlich mehr von deinen Kommiliton*innen und Dozent*innen abhängt als ßblich. Ein*e Dozent*in, der deine Begeisterung fßr ein Thema weckt, kann deinen Hyperfokus triggern. Dann stßrzt du dich begeistert auf deinen Lernstoff, ergreifst Initiative, bunkerst dich in der Bibliothek ein und kommst erst raus, wenn du wirklich den letzten Tropfen Information zu einem Thema aufgesogen hast.
Ein*e desinteressierter Dozent*in mit der pädagogischen Kompetenz einer Tischplatte kann aber auch genau das Gegenteil bewirken und dein Interesse am Seminar komplett vernichten. Dann wird die Beschäftigung mit dem Thema zur ständigen Qual.
Auch die Struktur deiner Universität bzw. deines Studiengangs ist wichtig. Hast du genug Freiräume zur Entfaltung? Hast du genug Zeit, um dich in ein spannendes Thema zu vertiefen? Gibt es trotzdem einen klaren Fahrplan, eine wertschätzende Disziplin, die dich nicht den Fokus verlieren lässt? Dann stehen die Chancen sehr gut, dass dein Gehirn sich zu HÜchstleistungen aufschwingt.
Oder verläuft alles stets nach Schema F, von dem es kein Abweichen gibt? Zählen AnwesenheitsprĂźfungen mehr als deine Meinung zum Seminarthema? FĂźhlst du dich mehr als bevormundete*r SchĂźler*in, statt als eine Person, die freiwillig zur Erweiterung des eigenen Horizonts nach Wissen sucht? Dann wirst du deutlich mehr emotionale Ressourcen aufbringen mĂźssen, um dich durchzubeiĂen.
Vermutlich wirst du – wie bei allem im Leben – beide Facetten des Studiums kennenlernen. Nichts ist perfekt. Versuche, dich mit dem Positiven aufzuladen und daraus Kraft und Disziplin fĂźr die negativen Aspekte zu schĂśpfen. Sie gehĂśren leider dazu.
Wie (d)ein ADHS-Gehirn Informationen verarbeitet
Damit deine Kondition sich nicht zwischen dich und dein Studium stellt, solltest du verstehen, wie dein Gehirn Informationen verarbeitet. Nur dann kannst du deine Lernstrategien effektiv auf deine individuellen BedĂźrfnisse anpassen. Denn ja – du bist etwas Besonderes!
Ein ADHS-Gehirn gewichtet und filtert Informationen wie Input von auĂen, Informationen aus deinem eigenen Gedächtnis sowie die VerknĂźpfung der beiden (denken, assoziieren und fĂźhlen) weniger automatisch. Das liegt an einem Mangel von Dopamin und Noradrenalin in den entsprechenden Gehirnarealen. Diese Hormone sind eine Art Navi fĂźrs Gehirn, die unwichtige Informationen abwerten und wichtige hervorheben.
Als ADHSler musst du deutlich mehr Informationen verarbeiten, denn dieser Automatismus ist bei dir geschwächt. Alles erscheint gleich wichtig. Oder wichtig genug, um sich ständig zu verzetteln und den Fokus zu verlieren. Organisiertes Lernen und Leben kann so ganz schÜn kraftraubend und anstrengend sein.
Lass dich davon nicht entmutigen! Es gibt durchaus Strategien, um erfolgreich gegen diese Zerstreutheit anzugehen. AuĂerdem verfĂźgen ADHSler wegen des schwächeren Informationsfilters Ăźber eine grĂśĂere Assoziationsbreite und sind in der Regel sehr kreativ. Da ein ADHS-Gehirn weniger Informationen im Vorfeld herausfiltert, stehen ihm mehr Ressourcen zur VerfĂźgung. Als ADHSler nimmst du mehr von deinem Umfeld wahr und kannst so auf sehr interessante und kreative LĂśsungswege kommen, die andere Ăźbersehen wĂźrden.
ADHSler denken nicht zu wenig, sondern zu weit.
Lasse dich niemals mit dem Satz abspeisen, dass du etwas als ADHSler halt nicht kannst. Es gibt durchaus Bereiche, die dir im Vergleich zu Nicht-ADHSlern schwerfallen kĂśnnen. Allerdings gibt es immer passende Copingmechanismen, die du selbst entwickeln kannst. Dein Grips kann beispielsweise dabei helfen, um eine FĂźlle an Informationen besser zu sichten und nach Wichtigkeit zu sortieren.
Eine hohe Intelligenz birgt aber auch die Gefahr, deine Selbstzweifel zu verstärken. Deswegen ist eine positive Selbstwahrnehmung sehr wichtig. ADHS ist weder dein Fluch noch dein Geschenk. Es ist einfach ein Teil von dir und du entscheidest, wie du damit umgehen mÜchtest.
In wiederkehrenden Problembereichen wie mangelnder Konzentrationsfähigkeit kannst du versuchen, dein eigenes Gehirn auszutricksen. Beispielsweise indem du dich als freiheitsliebender und spontaner Mensch zur positiven Disziplin und Ordnung zwingst.
Was zunächst gegen deine Natur zu gehen scheint, kann dich schnell entlasten und entspannen. Denn dein Drang nach Freiheit und Unverbindlichkeit kann in Strukturen wie der Universität schnell zu Konflikten fßhren. Spätestens wenn du ständig zu spät kommst und deine Arbeit immer auf den letzten Drßcker schiebst, wird aus deinem Drang nach Freiheit ein Gefängnis.
Deine ADHS-Superkräfte:
- Hyperfokus
- groĂe Assoziationsbreite
- Ehrlichkeit und Direktheit
- Kreativ-innovatives Denken
- das Entdecken von neuen LĂśsungswegen, die anderen verborgen bleiben
- Ăźberdurchschnittlich schnelle Reaktion und Auffassungsgabe innerhalb deiner Interessen
- hohe Empathie und EinfĂźhlungsvermĂśgen
- starkes Gerechtigkeitsempfinden
Dein ADHS-Kryptonit:
- schnelle Ablenkung und/oder Ăberforderung
- Wichtiges und Unwichtiges zu trennen fällt schwer
- (langweilige) Routinen durchzufĂźhren erfordert hohe mentale Anstrengung
- schwache Impulssteuerung (Spontankäufe, Freizeitstress durch zu viele Pläne)
- Anfälligkeit fßr Sucht (Drogen, Glßcksspiel, Extremsport etc.)
- Hypersensibilität (du fßhlst vieles gleichzeitig, was ßberwältigen sein kann)
- Hyperaktivität
- Ablehnung jeglicher Autorität
WICHTIG: Alles kann, nichts muss. Du bist eine einzigartige Schneeflocke.âď¸â¤ď¸Das ganze Spektrum an Pros und Kontras muss auf dich nicht zutreffen.
Im nächsten Teil unserer âStudieren mit ADHSâ-Reihe gehen wir darauf ein, wie du dein Gehirn erfolgreich hacken kannst, um motiviert und effektiv durch dein Studium zu kommen, deine Stärken voll auszuspielen und dich konstruktiv mit deinen Schwächen zu beschäftigen.
Grundlage fĂźr diese Artikelreihe ist das sehr empfehlenswerte Buch âMit ADHS erfolgreich im Berufâ von Heiner Lachenmeier.
- Zweiter Teil unserer „Studieren mit ADHS“-Reihe: Wie finde ich das passende Studium?
- Dritter Teil unserer „Studieren mit ADHS“-Reihe: Outen oder nicht outen?