Studieren in der Krise: Den Anfang des Studiums hast du dir bestimmt anders vorgestellt. Ein voller Campus, das Ausziehen aus dem Elternhaus, eine geile WG mitten in der neuen Stadt, wilde Partys und eventuell schon ein vorgeplantes Auslandsjahr. Von all dem können die Erstsemestler*innen, die in diesem Wintersemester ihr Studium begonnen haben, meistens nur träumen. Aber auch alle, die schon länger studieren, sehen sich einer ganz neuen Realität ausgesetzt.
Denn anstatt eines unbeschwerten Studiums, dem Bad in den Hallen des Wissens, der „geilsten Zeit deines Lebens“ musst du dich heute mit Kriegen, Inflationen, unbezahlbaren Wohnungen, Pandemien und im schlimmsten Fall auch Depressionen beschäftigen.
Alles eher richtig ungeil. Und doch glauben wir fest daran, dass du dich richtig entschieden hast. Dein Studium kann auch in crazy 2022 der Start in eine wunderbare und unvergessliche Zeit deines Lebens sein, die dich bis zu seinem Ende prägt. Denn wir Menschen sind nun einmal wahnsinnig anpassungsfähig. Auch an harte Zeiten. Und deine Einstellung macht eine Menge aus. Lass uns zusammen auf deine kommenden Herausforderungen schauen.
Vergiss den YOLO-Bullshit
Gleich vorweg: Das hier wird kein pseudo-motivierender „wenn du nur fest dran glaubst, wirst du alles schaffen“ Artikel. Manchmal hat man einfach Pech und es läuft nicht gut. Und dann sind da noch die vielen Ungerechtigkeiten, von BAföG-Anträgen über die Wohnungskatastrophe bis hin zu kalten Uni-Sälen. Da ist es völlig legitim für dich zu sagen: „Ich bin verdammt sauer!“ Doch um mal die großartigen Rage Against the Machine zu zitieren: „Your anger is a gift!“ Denn Krisen für Studierende hat es schon immer gegeben. Und oft sind sie gestärkt aus ihnen hervorgegangen.
Denk nur mal an die Proteste, die sich gegen die Trennung von POCs und den weißen Studierenden richteten. Denk an die Vietnam-Proteste der amerikanischen Studis, die den Druck in die Bevölkerung trugen und so entscheidend zum Ende des furchtbaren Krieges beitrugen. Denk an die aktuellen Proteste im Iran, bei denen sich die Studierenden in tödliche Gefahr begeben und trotzdem unbeirrt weitermachen. Für ihre Freiheit. Für ihre Unabhängigkeit. Es versteht sich von selbst, dass ihnen unsere volle Solidarität gilt.
Die Lage der Studierenden ist prekär
Natürlich muss es nicht immer so dramatisch zugehen. Ich selbst habe vor einem Jahrzehnt gegen die Studiengebühren demonstriert. Direkt in meinem ersten Semester. Das war aufregend! Die Aula der Uni zu Köln wurde besetzt, es gab Banner und Protestmärsche. Doch blieb zum Glück alles friedlich und nach einigen Jahren fielen die Studiengebühren. Wir hatten gewonnen – weil wir uns für unsere Sache engagiert haben.
Du musst viel mehr als Studiengebühren wegstecken. Die Lage für deutsche Studierende ist so prekär wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Viele negative Faktoren greifen ineinander. Für Studierende geht es seit zweieinhalb Jahren von Krise zu Krise. Wer vor zwei Jahren noch den digitalen Overload wegen der Pandemie abbekommen hat, kann sich heute keine Wohnung mehr in den großen Unistädten des Landes leisten, weil es schlichtweg keinen bezahlbaren Wohnraum gibt. Da bringt der Präsenzunterricht auch nicht viel. Um im Schnitt 5,9 Prozent haben sich Wohnungen für Studierende im Vergleich zu 2021 verteuert. Selbst geförderte Studierendenwohnheime mussten ihre Mieten erhöhen.
Dazu kommt die Inflation, teure Lebensmittel, teures…alles. Der BAföG-Satz wurde zwar leicht angepasst – doch selbst die frische Reform kommt der Inflation nicht nach. Es ist also völlig richtig, dass das Deutsche Studentenwerk (DSW) fordert, den BAföG-Satz an das neue Bürgergeld anzupassen. 502 Euro sollen aus Grundbedarf für den Lebensunterhalt gelten, findet Matthias Anbuhl, Generalsekretär des DSW.
Welche Zahl auch immer dort am Ende stehen mag – es muss mehr werden. Dazu sollte es keine zwei Meinungen geben.
Studieren in der Krise: große psychische Belastung
Geldsorgen machen krank. Das ist wissenschaftlich längst belegt. Und sie stören das Studium. Wer nebenbei viel arbeiten muss, kann nicht so viel lernen, wie es der Stundenplan vielleicht vorsieht. Dann muss ein Extra-Semester eingeschoben werden. Und da nicht alle Kurse auch im Sommersemester angeboten werden, wird aus einem Semester schnell ein ganzes Jahr. Das können sich nicht alle leisten.
Neben den ganz banalen Problemen wie der Zahl auf dem Kontoauszug am Ende des Monats, drückt die Lage der Welt ständig auf unser Gemüt. Manchmal geschieht es so schleichend, dass es kaum bemerkt wird. Aktuelle Umfragen und Studien belegen aber, dass die psychischen Probleme der Studierenden zugenommen haben.
In einer Befragung des freien Zusammenschlusses von Student*innenschaften gaben 60 Prozent von 7.622 Befragten zu Beginn des Jahres an, dass sie aufgrund ihrer psychischen Konstitution Probleme hätten, das Semester zu bewältigen. An den psychologisch-therapeutischen Beratungsstellen der Unis wurden im Vorjahr insgesamt 9.100 Stunden in Anspruch genommen, beinahe 1.000 mehr als vor Corona.
Kein Schatten ohne Licht
Und doch gibt es viele Lichtblicke, die dich zuversichtlich stimmen sollten. Auch wenn es wirklich genug ist – aktuell können in Deutschland so viele Menschen BAföG beantragen wie schon seit vielen Jahrzehnten nicht mehr. Und es gibt Druck auf eine weitere Erhöhung. Man kann davon ausgehen, dass sich da in den kommenden Jahren noch einiges tun wird.
Deine Kommiliton*innen kannst du nach zwei Jahren Pandemie endlich in der Uni treffen. Mag sein, dass du in deinem Hörsaal die Jacke anbehalten musst. Dabei kannst du dich aber an dem Gedanken wärmen, dass wir unsere Energieversorgung unabhängiger von den Diktatoren dieser Welt machen. Und damit das Leid unzähliger Menschen lindern. Auch der Ausbau erneuerbarer Energien wird Sprünge machen. Und damit unserer Umwelt die bitternötige Chance geben, sich von unserem Energiehunger zu erholen. Ob es der ewig gestrigen Lobby nun passt oder nicht.
Die ungerechten Studiengebühren hat die Generation von Studierenden vor dir durch friedlichen Protest beseitigt. Warum solltest du das bei deinen Herausforderungen nicht auch können? Spolier: Es gibt keinen Grund! Du hast heute deine eigenen Probleme. Und sie mögen zahlreich und schreiend ungerecht sein. Aber du hast auch dich, deine Überzeugungen und viel mehr helfende Hände, als du vielleicht glaubst.
Gute Nachrichten sind langsam
Gute Nachrichten sind langsam. Sie kommen weniger geballt auf dich eingeprasselt als all die Weltuntergangsschlagzeilen, die gerade das digitale Zeitalter in scheinbar endloser Menge hervorbringt. Aber es gibt sie! Täglich kämpfen Menschen für bezahlbaren Wohnraum, für tolerante und inklusive Dozent*innen, für das Recht auf freie Meinungsäußerung, gegen Diskriminierung und Ausbeutung, für Gleichberechtigung. Und obwohl sie alle seltener und weniger spektakuläre Schlagzeilen produzieren, haben sie oft genug Erfolg. Wichtiges Beispiel: In diesem Jahr studieren an den deutschen Unis mehr Frauen als Männer. Zum ersten Mal in der deutschen Geschichte!
Also: Stelle dich den Herausforderungen deiner Generation. Sei gut zu dir selbst und genauso gut zu deiner Umwelt. Sei mutig, sei wütend, sei produktiv und beharrlich. Und wenn du dann noch Ressourcen übrig hast – misch dich ein! Werde aktiv! Und sorge mit deinen Taten dafür, dass unsere Welt wieder etwas mehr strahlt, so wie es viele vor dir getan haben. Unsere Welt ist es wert. Du sowieso!